Bekenntnisse eines ungeouteten Schwulen
Sonntag, 6. Oktober 2013
Die normale Welt
Die Gesellschaft ist so offen und tolerant. Überall herrscht Akzeptanz ... Humbug! Die normale Welt weiß nichts über Schwule, sie kennt sie nicht, sie weiß nicht, wie sie mit ihnen umgehen soll und in ihr herrschen noch all die Homo-Klischees wie in einem absolutistischen Staat, der nicht untergehen will.

Ich: heute auf einem Mittelalterfest. Ein Gaukler legt eine tolle Show hin, er hat Charisma, kokettiert frech mit dem Publikum und jongliert mit allerlei Gegenständen. Ein Baby in den Armen seiner Mutter weint. Er stoppt seine Show und mokiert sich augenzwinkernd über das Kind. Die Mutter solle es nicht so verwöhnen - sonst werde es noch zum Bürgermeister von Berlin. Das Publikum lacht sich scheckig. Ich fühle mich extrem unwohl.

Vielleicht nehme ich das ja auch zu ernst, aber mir geht diese Unwissenheit und Intoleranz, die sich auch noch feige hinter Bildern versteckt, zu weit. Als ob es keine Homophobie wäre, wenn man nur durch die Blume sagt, dass man seine Kinder gefälligst nicht zu weichen Schwuchteln erziehen soll. Wie hier zum einen impliziert wird, dass Homosexualität durch irgendeine Erziehungsmethode gefördert oder eben gehemmt werden könnte - es ist einfach nicht förderlich, solche Klischees und Unfakten zu verbreiten. Zum anderen hat der Gaukler durch dieses kleine Verbalscharmützel zu verstehen gegeben, dass man es auch keineswegs wollen kann, sein Kind zu einem Homosexuellen werden zu lassen. Es kam mir so vor, als ob das gesamte Publikum durch sein herzhaftes Lachen diesen Implikationen aus tiefstem Herzen zustimmte.

Hoffentlich irre ich mich und habe einfach keinen Humor...

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Was da passiert ist ganz alltäglich...
Obwohl es kaum noch möglich ist, als Hete vollständig an dem Thema Homosexualität vorbei zu kommen, schaffen Heteros es erstaunlich gut, jegliche andere sexuelle Orientierung als der eigenen, gedanklich aus ihrem Alltag zu entfernen.

Aus meinem Arbeitsalltag weiß ich genau, dass diese ganzen "Scherze" und Herabwürdigungen, sauber anerzogene Automatismen sind, die sich nur schwer wieder abstellen lassen. Selbst wenn man als offen Schwuler neben ihnen sitzt, schaffen sie es zum Teil nicht, die Konsequenzen ihres Handelns vorauszusehen und anders zu reagieren.

Dabei muss man halt sehen, dass Heteros es in ihrem leben quasi schon "zu leicht" hatten. Sie mussten sich nie ausführlich mit sich selbst oder mit anderen Menschen beschäftigen. Ihnen ist diesbezüglich alles einfach so "zugeflogen".

Eigentlich müsste man sie "erziehen". Dafür wäre es aber nötig, dass jeder einzelne von uns im Alltag den Mund aufmacht, wenn eine diskriminierende oder homophobe Situation entsteht. Leider trauen sich die meisten eben nicht, Misstände anzusprechen und gerade zu rücken. Deswegen finde ich auch so Sätze wie: "Meine Orientierung geht niemanden etwas an" ziemlich feige. Sicherlich muss man immer sein persönliches Risiko abschätzen. Aber so lange wir uns verkriechen und nicht reagieren und den Leuten nicht unmissverständlich klar machen, was sie da gerade getan haben, wird es so latent homophob weiter gehen wie bisher.

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Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Naja, zwei Anmerkungen persönlicher Natur hätte ich: Gerade weil homophobe Kommentare oftmals Automatismen sind, werden sie wohl zu einem großen Teil nicht unbedingt in böser Absicht ausgesprochen. Mich verleitet das größtenteils zu einer gewissen Weichheit nach dem Motto "war ja nicht so gemeint". Man muss sich dazu zwingen, trotzdem auf die teilweise verherrenden Folgen auch nicht beabsichtigter Beleidigungen und Erniedrigungen dieser Art hinzuweisen. Und zweitens: Das ist sauschwer. Für mich, der ich noch nicht einmal ein halbwegs normales Verhältnis zu mir und meiner Sexualität aufgebaut habe, erscheint es regelmäßig fast unmöglich...

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@queerchris:
Um mal quasi eine Außenstehende einzuschalten, hätte ich noch eine Frage/Anmerkung.
Ist dieses "Meine Orientierung geht niemanden etwas an" wirklich immer nur Feigheit im Sinne des "Ich halte meine Orientierung geheim"? Oder geht es nicht oft auch darum, dass damit eine Art Toleranz gefordert wird, à la "Es kann dir doch komplett egal sein, in welche Richtung ich orientiert bin"?

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@queerchris:

Ich find's aber ehrlich gesagt auch ein bisschen problematisch, da pauschal über alle "Heten" zu reden und zu behaupten, die hätten es grundsätzlich zu einfach, und man müsse sie erziehen. Das habe ich im Bezug auf meine eigene Sexualität nun wirklich nicht so empfunden. Ich will die vorherrschende Heteronormativität und Homophobie nicht entschuldigen. Aber: Natürlich beschäftigen sich auch heterosexuelle Menschen mit anderen Menschen. Da sollte man doch schon ein bisschen differenzieren.

Ich glaube, dass Homophobie viele Facetten und Ausprägungsgrade hat. Manch heteronormativ geprägter Mensch ist vielleicht einfach nur befangen und weiß nicht so recht, ob er seinem homosexuellen Gegenüber einen Gefallen tun würde, wenn er sagt, was er denkt (was vom Ausdruck der Anerkennung z.B. bezüglich Outing und Stehen zu sich selbst bis hin zu ganz persönlichen, von der sexuellen Orientierung unabhängigen Bekundungen von Sympathie oder Antipathie reichen kann). Manche haben auch Angst, zu verletzen und etwas falsches zu sagen. Völlig indiskutabel sind natürlich die oben erwähnten, herabwürdigenden Witze, dummes Stammtischgelaber, alberne Vorurteile bis hin zur offenen Diskriminierung, wie sie zur Zeit beispielsweise in Russland immer schlimmer wird. Von religiösen Aspekten bis hin zum Rückgriff auf biblisch begründete Dogmen gegen Homosexualität mal ganz zu schweigen.

Ich sehe da die Notwendigkeit zu Wachstum, aber auch großes Potenzial. Ich würde mich nur freuen, wenn in der ganzen Angelegenheit Vorurteile eine geringere Rolle spielten, sowohl diejenigen über heterosexuelle als auch die über homosexuelle Menschen.

P.S.: Das bitte jetzt nicht als Derailing-Versuch missverstehen! Die Diskriminierung gegen Homosexuelle möchte ich auf gar keinen Fall bagatellisieren, sie steht für sich und ist eine riesengroße Sauerei.

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@queerchris:
Dabei muss man halt sehen, dass Heteros es in ihrem leben quasi schon "zu leicht" hatten. Sie mussten sich nie ausführlich mit sich selbst oder mit anderen Menschen beschäftigen. Ihnen ist diesbezüglich alles einfach so "zugeflogen".

Ach ja? Das riecht für mich ehrlich gesagt ein bisschen nach "das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite des Zauns". Von weiter weg betrachtet mag es freilich so aussehen, als gebe es eine "heteronormative Matrix", die bestimmte Hinterfragungen des eigenen Selbst und des erstrebenswerten Partnerschaftsmodells gar nicht erst aufkommen lässt. Aber einer näheren Betrachtung hält das leider nicht stand. Sag ich mal so als Homeofficer und Hausmann, dessen Frau mit ihrem Fulltimejob die Hauptverdienerin ist.

Aber diese Fehlannahme hat ihre Entsprechung auf der Heteroseite, wenn sich eins vor lauter Grübeln über das schwierige Annähern und Verstehen zwischen den Geschlechtern bei dem Gedanken ertappt, Schwule und Lesben hätten es da womöglich besser, denn sie haben es ja in der Partnerschaft mit ihresgleichen zu tun und somit weniger Verständigungsprobleme an der Backe. ;-)

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@philosophicus
Ich denke diese "Meine Orientierung ist Privatsache und deswegen muss ich mit niemandem darüber reden"-Einstellung ist eine Ausrede. Ja, es ist feige. Heten haben das Recht, ihre sexuelle Orientierung ständig vor sich herzutragen. Das machen sie nicht aus Provokation, sondern weil ja nichts dabei ist, von seinem Partner zu erzählen oder zu sagen, dass man diese oder jene Person süß findet. Homos müssen sich dieses Recht stellenweise noch nehmen und es für sich selbst entdecken. Eben gerade weil ja nichts dabei ist und es doch den anderen egal sein sollte...

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Letzte Aktualisierung: 13. Juli, 02:03
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