Tabu
Gibt es ein größeres Tabu als mit Ende 30 noch Jungfrau zu sein? Bestimmt. Aber allerhöchstens eins. Oder vielleicht zwei. Verschiedenen Studien zufolge liegt der Anteil an Jungfrauen unter Männern um die 30 bei fast zehn Prozent! ZEHN Prozent!! Da kann man bestimmt noch ein paar Punkte draufrechnen - in einer sexualisierten Welt wie der unseren wird die Verzerrung der Befragungen durch soziale Erwünschtheit enorm sein. Schließlich will niemand - selbst anonym - als Sexnulpe gelten. Das wäre doch beschämend. Beschämend ist natürlich nur die Gesellschaft, in der man genötigt wird, sich für solcherlei "Verfehlungen" zu schämen.
Wo ist eigentlich die Lobby für diese nicht gerade kleine Minderheit? Wo wird das offen thematisiert - oder überhaupt erwähnt? Aber vielleicht gibt es doch kein größeres Tabu...
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Drei Geschichten
Ich habe von drei Geschichten gehört. Die ersten zwei spielen in der DDR. Bei der einen gibt es einen schwulen NVA-Soldaten, der bei einer Feier einen bereits vom Alkohol niedergestreckten Kameraden vergewaltigen will - also sich seelenruhig zum Stich freimacht, während die Party noch am Laufen ist. Schlimmeres soll verhindert und dem Versuchstäter wohl auch am nächten Tag eine Abreibung verpasst worden sein. In der zweiten Geschichte wird ein junger Mann früh morgens oder sehr spät abends - jedenfalls ist es menschenleer - in die Fahrerkabine eines öffentlichen Verkehrsmittel geholt. Was sich zuerst als reine Freundlichkeit des Fahrers darstellt, gipfelt in peinlich-unangebrachten Berührungen. In der dritten Geschichte, die weniger Geschichte als vielmehr Brauch ist und sich zur aktuellen Zeit der Bundeswehr zugetragen haben soll, geht es um gleich zwei Schwule in einer Bundeswehreinheit. Und diese haben immer getrennt von den anderen Mitgliedern der Einheit geduscht, weil das die anderen Mitglieder - natürlich tolerante Menschen - so wollten. Alle Geschichten implizieren indirekt oder thematisieren direkt das Klischee des immergeilen Schwulen, der jederzeit zum sexuellen Übergriff bereit ist. Okay, bei der dritten Geschichte ist das irgendwie ambivalent: Die Trennung der Geschlechter in Umkleidekabinen ist ja durchaus auch gang und gäbe - hat das sexuelle Gründe? Durchaus verständlich, dass dann auch eine Trennung von homosexuellen und heterosexuellen Männern angebracht scheint. Ich finde das insgesamt schwierig zu bewerten - wahrscheinlich habe ich auch deswegen mein ganzes Leben unbewusst jegliche Situationen gemieden, die die Möglichkeit gegenseitigen Schwanzbeschauens enthalten: Vom Pissbecken über die öffentliche Dusche bis zur Bundeswehr. Vielleicht war ich schon soweit in meiner noch nicht eingestandenen Homosexualität gefestigt, dass ich wusste, dass es zu sexuellen Spannungen und also Peinlichkeiten kommen könnte. (Oder vielleicht lag es doch nur an der Einbildung, ich hätte einen zu kleinen Penis - eine lächerliche Sache, die mich aber ziemlich lange begleitet hat.) Gerade deswegen finde ich auch die ersten zwei Geschichten - also von meiner Warte aus betrachtet - so suspekt; womit ich übrigens nichts über deren Wahrheitsgehalt gesagt wissen will. Ich würde niemals solche Angriffe auf die sexuelle Integretät eines anderen Menschen starten. Aber man muss natürlich auch die gesellschaftliche Situation in Betracht ziehen: Gerade wenn homosexuell Empfindenen die Hilfe mit ihren Neigungen, ein Halt im erotischen Wirrwarr und die Akzeptanz verwehrt bleibt, können solche plötzlichen Überfälle geschehen. Und den unendlichen Zugriff auf Schwulenpornos über das Web zwecks Abreaktion, den gab es ja auch nicht. Damit will ich solches Verhalten zwar nicht gutheißen (ganz im Gegenteil), aber kann durchaus ein wenig Verständnis dafür aufbringen.
Ich betrachte diese Geschichten übrigens ganz wertfrei - jedenfalls solange sie nicht eine Art Blaupause darstellen, welche das Denken über Schwule anleitet.
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Gründe
Als offener homosexueller, noch viel mehr als ungeouteter homosexueller oder auch als interessieter heterosexueller Mensch wird man sich immer wieder fragen: Warum Homosexualität? Woher kommt diese Form der sexuellen Orientierung? Wahrscheinlich kann man sich zu diesem Thema mit Literatur, Texten und Meinungen eindecken, die für ein ganzes Leben ausreichen würden. Dabei wird einem schnell auffallen, dass es verschiedene Theorien gibt, die sich wohl grob in vier Ansätze einteilen lassen:
- der genetische Ansatz: Homosexualität ist genetisch bedingt.
- der hormonelle Ansatz: Homosexualität ist durch Hormonausschüttungen in der Gebärmutter bedingt.
- der entwicklungspsychologische Ansatz: Homosexualität ist durch Umwelteinflüße und Erziehung bedingt.
- der Willensansatz: Homosexualität ist eine bewusste Entscheidung.
Umso mehr man liest, umso schneller wird einem klar, dass die Wahrheit nicht ganz so einfach ist: Kein ernsthafter Wissenschaftler würde einem der Ansätze das Vorrecht einräumen, sondern betrachtet sie vielmehr als Aspekte eines vielschichtigen und komplexen Phänomens. Sobald allein auf nur einen Aspekt gepocht wird, ist man bereits im Gefilde der Ideologie. Was heißt das? Dass gar kein ernsthaftes Interesse besteht, zu erklären, wie die sexuelle Orientierung entsteht. Vieleher werden dahingehende Erklärungen missbraucht, um politische Ziele durchzusetzen und gesellschaftliche Stimmungen zu erzeugen. Konkret kann man das derzeit in den USA nachvollziehen, wo um das Thema "gay marriage" ein regelrechter Kulturkampf entbrannt ist. Es geht schlicht und ergreifend darum, ob Homosexuelle den Bund der Ehe schließen dürfen, eine eingetragene Partnerschaft führen können oder keines von beiden möglich ist. In Deutschland ist dies bundesweit durch das Lebenspartnerschaftgesetz geregelt (Ehe: nein, eingetragene Partnerschaft: ja), in Amerika regelt das jeder Bundesstaat nach eigenem Gutdünken. Es geht dort jedenfalls heiß her und der Ansatz zur Erklärung von Homosexualität spielt eine tragende Rolle: Liegt es allein an den Genen, wie der, ich nenne es mal so, "militante Homosexualismus" behauptet - wie soll man den Homos das Recht auf die Ehe verwehren? Ist gleichgeschlechtliche Sexualität allein eine Frage der Entscheidung - das kommt aus der Ecke der religiösen Fundamentalisten - so sei das Recht auf Eheschließung nicht zu gewähren...
Mir persönlich ist das alles eine unerträgliche Begriffshuberei. Es spielt doch überhaupt keine Rolle, warum zwei Menschen eine Beziehung zueinander eingehen (ob durch Willenskraft oder genetische Determination) und diese dann vom Staat und in einem rechtlichen Rahmen anerkannt wissen wollen. Wenn es so ist, dann ist es so. Jegliche Gegenargumente sind obsolet: Das tradionalisitische Argument (Ehen waren bisher zwischen Mann und Frau und außerdem steht's so in der Bibel steht) ist eigentlich zu steinzeitlich, um es in einem vernunftsbasierten Kontext tatsächlich zu beachten. Falls die Ehe als gesellschaftliches Institut der Familie betrachtet wird, so kann man auf Adoption und Leihmutterschaft hinweisen - an der Möglichkeit des Kindes mangelt es keinesfalls. Und sei die Ehe schlussendlich ein biologisches Institut der Vermehrung, gäben sich die Homosexuellen sicher damit zufrieden, wenn sie gleichfalls dem heterosexuellen Rentnerpaar oder allen weiteren zeugungsunfähigen Partnern verwehrt bliebe. Denn die Gleichbehandlung ist bekanntlich ein Menschenrecht.
Soviel zum konkreten Beispiel der ideologischen Verwendung dieser Erklärungsansätze. Vielleicht ein paar Worte zu meiner meiner persönlichen Meinung: Ich glaube, wir sind sehr viel variabler und offener als der festgezurrte Begriff der sexuellen Identität nahelegt. Zweifeilos speist diese sich aus allen vier genannten Ansätzen. Aber es wird da sicher die wildesten Mischungsverhältnisse und Möglichkeiten geben: Den genetischen Schwulen, der glücklich mit einer Frau verheiratet ist und KInder hat. (Wer wären wir, ihm zu sagen, er kann so nicht glücklich sein?) Den Macho, der eine wilde und schöne Nacht mit seinem besten Kumpel erlebt. Oder die heterosexuelle Frau, die enttäuscht von der Männerwelt ihr Glück mit anderen Frauen versucht. Mag es alles geben und warum sollten wir hinterfragen, wieso das so ist. Wenn es sich richtig anfühlt, können einem die Gründe den Buckel runterrutschen.
Ich muss auch noch lernen, mich von diesen Ansätzen und ihren ideologischen Implikationen zu befreien. Man sollte sich als Homo nicht unter Rechtfertigungszwang setzen. Und eine aufgeklärte Gesellschaft sollte dies ebensowenig tun. So entstehen nur unangebrachte Zweifel wie: Vielleicht kann ich mich noch umentscheiden? (Aber warum sollte ich das tun, wenn es sich jetzt gerade in diesem Moment richtig anfühlt, diesem Typen in der Straßenbahn auf den Arsch zu glotzen.) Oder Schuldzuweisungen wie: Hätten mir die Eltern bloß mehr Jungsspielsachen gekauft! Also entweder liegt es an mir oder der Gesellschaft, aber ich habe nicht das Gefühl, dass wir einen Stand der Aufklärung erreicht haben, der es uns erlaubt, ohne Hintergedanken und Umpolungsfantasien über diese Ansätze zu sprechen...
Fazit: Als Individuum steht es uns frei, das zu machen, was uns beliebt - aus welchen Gründen auch immer. Der schwule Sexualwissenschaftler Martin Dannecker zur Frage, worin die Gefahr der (hier von mir gerade praktizierten) ewigen Reflexion der seuxellen Differenz liegt: "Dass man sich seine Identität immer erklären muss, bis hin zu der großen Frage, die sich viele immer noch stellen: warum sie denn homosexuell geworden sind. Meistens wird dann dazu die Theorie bemüht. Aber ich bin der Meinung, dass man zu dieser Frage sowieso nichts sagen kann, die Frage müssen sich auch andere nicht stellen."
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Der Anfang
Ich bin 28 Jahre alt und hatte noch nie eine Freundin, einen echten Kuss oder eine intime Erfahrung mit einem anderen Menschen. Der Grund dafür wird wohl meine Homosexualität sein, mit der ich mich erst seit Neustem konfrontiert sehe. Natürlich ist dieser Umstand nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Auch wenn einige Konservative meinen, Schwul-Sein wäre eine mal eben getroffene bewusste Entscheidung, um sie auf die Palme zu bringen und ein sündenreiches Leben als Dragqueen o.ä. zu führen. Aber die haben halt noch nicht gemerkt, dass sich nicht immer alles um sie dreht.
Dass man auf Männer steht, kann man entweder bemerken oder will man nicht bemerken. Bewusstwerdung ist eben kein Wissen, welches plötzlich da ist, sondern ein ziemlich komplexer Prozess, der auch über Jahre, gar Jahrzehnte andauern kann. Mh... ja, ich habe mich tatsächlich mein ganzes bisheriges Leben nicht wirklich für Frauen interessiert - jedenfalls nicht jenseits eines heteronormativen Konzeptes von Männlichkeit, das ich für mich unkritisch annahm. Wie also entdeckt man erst Ende Zwanzig seine sexuelle Identität? Ich habe mich ziemlich lange nicht selbst geliebt, ich empfand mich als hässlich und sexuell uninteressant für andere - die Möglichkeit einer romantischen und damit auch körperlichen Beziehung mit einem Menschen war bisher nicht Teil meines Lebenskonzeptes. Da ich also eh keine Pläne hatte, mit irgendjemandem intim zu werden, war die Frage nach der Sexualität eben auch keine drängende für mich. Die homosexuellen Fantasien und der Konsum entsprechenden Materials ließen sich da auch wunderbar als eine Art Wunschvorstellung von einem männlichen Aussehen erklären, welche als Kompensation für mein schlechtes Selbstbild diente. (Die aus dem christlich-orthodoxen Dunstkreis kommenden "reparativen Therapien" zur Heilung von Homosexualität nehmen eine angeblich gestörte Männlichkeit zur Grundlage ihres Wahnsinns.)
Ich ging also über Jahre davon aus, wenn ich mich erst einmal selbst lieben lernen würde, dann würde ich nicht mehr diese Bilder von anderen Männer anziehend finden. "Wird sich schon einrenken!" Natürlich kann man mich jetzt fragen: Aber Homosexualität ist doch gar nicht problematisch und du als tolerantes Kerlchen solltest doch als erstes auf solche lächerlichen Verdrängungsstrategien verzichten können...? Ich habe das wohl weniger aus internalisierter Homophobie - wie es so schön heißt - gemacht, als vielmehr aus purer Faulheit. Denn schwul zu sein, ist ja nun immer noch nicht ein Zuckerschlecken in dieser Gesellschaft. Das zieht einen Rattenschwanz an ziemlich komplexen Tätigkeiten nach sich, welche sich dem Heterosexuellen eher einfacher oder gar nicht stellen: Das fängt beim Outing an, geht über die Partnersuche weiter, dann gibt es sicher immer wieder Anfeindungen, die man ja nun auch als engagiertes Mitglied einer Minderheit argumentativ außer Kraft setzen sollte usw. usf. Boah, ich finde das schlimm und anstrengend und will das eigentlich alles gar nicht. Aber es führt nunmehr kein Weg daran vorbei. Ich musste leider einsehen, dass all die schönen Theorien vom Vielleicht-Hetero-Werden meinem neuentdeckten Selbstverständnis nicht standhielten. Nun stehe ich also da: Ein ungeouteter Schwuler, eine Jungfrau, ein absoluter Beginner. Vielleicht hilft mir ja das Schreiben zu einem neuen Tun. Denn es gibt viel zu tun und ich weiß nicht ansatzweise, wo ich anfangen soll...
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Letzte Aktualisierung: 13. Juli, 02:03
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